Die Kulturanthropologin Anne Dippel und der promovierte Physiker und Professor für Informatik und Digitale Medien Martin Warnke fragen in ihrem Buch Tiefen der Täuschung nach den epistemischen und praktischen Effekten der zunehmenden Nutzung von Computersimulationen in der Wissenschaft und anderen digitalen Kulturen. Das Buch ist im Rahmen der DFG-Kolleg-Forschergruppe Medienkulturen der Computersimulation entstanden, die an der Leuphana Universität Lüneburg angesiedelt ist. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie, in der Simulationen des Infektionsgeschehens als Entscheidungsgrundlage für Abstandsregeln, Lockdowns und Demonstrationsregulierungen herangezogen wurden, konstatieren sie eine „schwere Krise der Wahrheit, die durch digitale Medien ausgelöst wurde“ (S. 32) und sich u.a. in Fake News, Populismus und Verschwörungstheorien äußert. Dem gegenüber wollen sie Menschen „ermächtigen, in digitalen Kulturen erfolgreich wissenschaftlich ausgehandelte Weisen der Wirklichkeitserzeugung von betrügerischem Schwindel zu unterscheiden und so das Vertrauen in Expertinnen wiederzuerlangen“ (S. 131).

Die Studie präsentiert dazu eine historisch-ethnografische Rekonstruktion eines zentralen Experiments aus der Physik, um daran den technisch-medialen Wandel der Wissensproduktion, Theoriearbeit sowie methodischen Absicherung zu diskutieren, den sie nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in vielen anderen Feldern beobachten. Im Anschluss an klassische Arbeiten der Wissenschaftsforschung von Ludwik Fleck und Thomas Kuhn verstehen sie die Physik als ein Denkkollektiv, deren dominanter Denkstil der mathematisch gefassten, kausal denkenden theoretischen Physik durch Computersimulationen herausgefordert wird, die primär mit Korrelationen operieren. Ihr empirisches Fallbeispiel ist das quantenmechanische Doppelspaltexperiment, das 1801 erstmals durchgeführt wurde, um die Natur des Lichts zu erforschen. Daran schlossen sich viele erkenntnistheoretische Debatten wie um den Welle-Teilchen-Dualismus an, die in der Gegenwart von Christel Michielsen und Hans de Raedt am Forschungszentrum Jülich mit Computersimulationen neu aufgegriffen und von den Autor*innen ethnografisch begleitet werden. Das Beispiel eignet sich hervorragend, um das grundlegende Argument zu verdeutlichen, dass Computersimulationen für Theoriearbeit benutzt werden können und mit ihnen ein epistemischer Paradigmenwechsel im Gange ist, der auf vielfältige Widerstände stößt und damit wiederum eine methodologische Absicherungsarbeit hervorbringt.

Die Haltung, die die Autor*innen angesichts der Verunsicherung durch digitale Medien entwickeln, bezeichnen sie als „operativen Realismus“, den sie im ersten Kapitel erläutern. Er schließt an die Neuen Materialismen und feministischen Science and Technology Studies von Donna Haraway und Karen Barad an und denkt Beobachter*innen und Medien als konstitutive Elemente von Relationen und Intra-Aktionen im Erkenntnisprozess mit.

Das Buch ist in vier Kapitel gegliedert: Nach der programmatischen Einleitung folgt im zweiten Kapitel eine dichte Beschreibung ihrer ethnografischen Feldforschung und eine Einführung in das Feld der Quantenphysik. Das dritte Kapitel analysiert den Medienwandel der physikalischen Wissensproduktion und deren blinde Flecken: Von der theoretischen Physik, die von Naturgesetzen und ersten Prinzipien ausgeht und mit Differentialgleichungen operiert, hin zu einem simulativen Verhältnis zur Natur anhand informatischer Regeln und Standardisierungsprozesse. Im vierten und letzten Kapitel „Sinn und Skepsis“ fragen die Autor*innen schließlich, wie mit Computersimulationen überhaupt versucht wird, Gewissheit zu erzeugen, obwohl damit nur ein „imitation game“ (Alan Turing) gespielt werden kann. Dazu gehen sie leider nur kursorisch auf den Vergleich von Simulationsmodellen, die Überprüfung der Reproduzierbarkeit und die Standardisierung von Softwarepaketen ein.

Den Autor*innen gelingt es sehr gut, ihre Forschungsaufenthalte und das Doppelspaltexperiment anschaulich und nachvollziehbar darzustellen. Auch die Entscheidung ihre ethnografischen Beschreibungen als „kondensierte, pointierte Nacherzählungen“ (S. 34) wiederzugeben und diese gemeinsam mit den erforschten Physiker*innen zu überarbeiten, erscheint angemessen und konsequent. Allerdings wäre es durchaus wünschenswert gewesen, die von den Autor*innen selbst erwähnten generationellen, geschlechtlichen, disziplinären und hierarchischen Differenzen (S. 38) auch auszuführen statt sie hinter dem kollektiven Wir unsichtbar zu machen.

Interessant und problematisch zugleich wird es bei der Frage der Reichweite der Diagnose des Buchs. Im engeren Sinne ist die Arbeit eine kleine wissenschaftsethnografische Studie, die die Marginalisierung der computational physicists und das medienvergessene, instrumentelle Computerverständnis innerhalb der Mainstream-Physik kritisiert. Die Autor*innen wollen darüber hinaus allerdings eine wesentlich breitere Diskussion über die „Gültigkeit alltäglicher Weltverhältnisse“ (S. 10) in der Digitalisierung führen. Sie gehen davon aus, dass sich „die Beispiele aus der subatomaren Welt in unsere makroskopische Welt hochskalieren lassen“ (S. 33). Für eine überzeugende Argumentation wäre hier die vergleichende Analyse eines anderen Feldes notwendig gewesen, in dem Computersimulationen zum Einsatz kommen. Diese werden im vorliegenden Buch allerdings nur angedeutet und laden insofern zu weitergehender Forschung ein.

Es ist zu befürchten, dass das Buch keine große Rezeption erfahren wird, wenn es in der Physik ignoriert wird und das empirische Beispiel für die Kulturanthropologie zu weit weg vom Alltag der meisten Menschen ist. Zu wünschen wäre ihm allerdings das Gegenteil!

Martin Warnke und Anne Dippel (2022): Tiefen der Täuschung. Computersimulation und Wirklichkeitserzeugung. Berlin: Matthes & Seitz.

Erstveröffentlichung und Zitationsvorschlag der Rezension:

Möllenkamp, Andreas (2023): Martin Warnke / Anne Dippel: Tiefen der Tauschung. Computersimulation und Wirklichkeitserzeugung. Zeitschrift für Empirische Kulturwissenschaft, 119(2), S. 278-280. DOI: https://doi.org/10.31244/zekw/2023/02.18