Rezension zu: Habermas, Jürgen: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Suhrkamp, Berlin 2022, 109 Seiten, 18 Euro.

Es ist ja nicht unumstritten: Jürgen Habermas ist der einflussreichste lebende deutsche Philosoph und Sozialtheoretiker. Er verfügt über eine umfangreiche Publikationsliste und hat Ende 2022 sein neuestes Buch veröffentlicht: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Das Erscheinungsjahr ist kein Zufall: 60 Jahre zuvor veröffentlichte Habermas seine Habilitationsschrift und erstes berühmtes Werk: Strukturwandel der Öffentlichkeit. In dieser Studie analysierte Habermas die Entwicklung der Öffentlichkeit aus einer ideengeschichtlichen Perspektive. Bei der Ausdifferenzierung zwischen Gesellschaft und Staat, die die Politik der Moderne kennzeichnet, habe die Presse eine bedeutsame Rolle gespielt. Mit der Etablierung des Journalismus sei die Möglichkeit entstanden eine große Anzahl von Menschen zu erreichen und die öffentliche Debatte zu beeinflussen. Die Medien (insbesondere der Journalismus) seien somit grundlegende Elemente bei der Etablierung einer Öffentlichkeit, die sich im Zeichen einer säkularisierten Politik für die Legitimierung von Entscheidungen als relevant erweist. Habermas deutete ebenfalls den Untergang der politischen Öffentlichkeit an, der mit der Etablierung der Massenkommunikation und der Konsolidierung der Kulturindustrie zusammenhänge. Habermas‘ kritische Theorie hat seitdem die Wiedergewinnung der Legitimierungskraft der Öffentlichkeit als Ziel, die von einem philosophischen und soziologischen Verständnis des Diskurses und seiner öffentlichen Dimension unterstützt wurde.

Dieses Projekt erreichte seinen Höhepunkt mit Faktizität und Geltung genau dreißig Jahre später. In Faktizität und Geltung vertritt Habermas die These, dass die Öffentlichkeit die Hauptlegitimationsquelle für das Recht und die Politik in modernen Gesellschaften darstelle. Die Bekämpfung der Politikverdrossenheit erfolge nicht nur mit institutionellen Verbesserungen im Zentrum des politischen Systems (Parlament, Gerichte und Bürokratie), sondern vielmehr mit dem Schutz einer (informellen) Öffentlichkeit, deren Kommunikationsströme die demokratischen Entscheidungsprozesse legitimieren sollen. Diesem Projekt liegt eine normative Rekonstruktion der Rechtstheorie zugrunde. Das rekonstruktive Unternehmen zeige, dass die Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Autonomie nur legitim ist, wenn die Beteiligung aller Bürger:innen als Teilnehmer:innen an rationalen Diskursen über die geltenden Regeln gesichert ist. Dieses Modell nannte Habermas deliberative Politik.

Faktizität und Geltung erschien im Jahr 1992. Die Öffentlichkeit, der der Autor eine legitimierende Kraft zuschreibt, sah ganz anders aus als heute. Die Kommunikation hat einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Es geht nicht nur um die Beschleunigung und Globalisierung der Kommunikation (z.B. per WhatsApp oder Telegram), sondern auch um die algorithmisch bestimmten Interaktionen in Plattformen. Aus diesem Grund stellt sich die Frage, ob es noch möglich ist, von einer Öffentlichkeit im Habermas’schen Sinne zu sprechen. Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik widmet sich genau dieser Frage. Das Buch beinhaltet drei Texte: Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit, Deliberative Demokratie: Ein Interview und Was heißt ‚deliberative Demokratie‘? Einwände und Missverständnisse.

Der erste Text thematisiert die Veränderungen, die die Öffentlichkeit durch das Phänomen der Plattformisierung der Kommunikation erfahren hat. Wenn die Presse, wie Habermas in Strukturwandel der Öffentlichkeit hervorhebt, eine grundlegende Rolle bei der modernen Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Sphäre spielt, verwischt die Plattformisierung der Berichterstattung die Unterschiede zwischen beiden. In einem Kontext, in dem alle Interaktionen durch die Grundkategorie ‚Profil‘ erfolgen, verliert die Unterscheidung zwischen Produzierenden und Rezipierenden von Inhalten ihre Bedeutung. In den (privaten) Plattformen sind alle Teilnehmenden Netzkonsumenten, die der Generierung und Konsumierung von Beiträgen fähig sind. Dies führe, so Habermas, zu einer Deformation der Wahrnehmung der politischen Öffentlichkeit. Im Modell der deliberativen Politik spielt die Öffentlichkeit die Rolle des Frühwarnsystems der Politik. Sie legitimiert und bereitet die Themen vor, die im Zentrum des politischen Systems debattiert werden. Zu den Aufgaben der Medien gehört unter anderem die Sensibilisierung des politischen Systems. Die Pluralisierung der Formen der Berichterstattung bedeute laut Habermas eine Schwächung der integrativen Rolle der traditionellen Medien, was zum Zusammenbruch einer objektiv unterstellten Welt führe. Die Entstehung von Halböffentlichkeiten (im Plural) begünstige die Veröffentlichung von Fake News und untergrabe die Erwartung von Zuverlässigkeit, Qualität und allgemeiner Relevanz, die von den traditionellen Medien allgemein zu erwarten sind. Eine deformierte Wahrnehmung der Öffentlichkeit belaste ebenfalls die Integration einer bereits durch extreme soziale, ethische und religiöse Konflikte herausgeforderten Gesellschaft. Am Ende des ersten Beitrags hält Habermas ein Plädoyer für die Umstrukturierung des Haftungssystems für Inhalte auf Social-Media-Plattformen sowie für die Aufrechterhaltung einer inklusiven und deliberationsfreundlichen Medienstruktur – dies sei ein verfassungsrechtliches Gebot.

Sowohl das Interview als auch der letzte Text ergänzen wichtige Elemente für die Zukunftsfähigkeit der deliberativen Politik in digitalen Gesellschaften. Als letzte Frage des Interviews wurde Habermas mit der Verortung seiner Theorie in der Tradition der Frankfurter Schule konfrontiert. Er behauptet, dass sein rekonstruktives Unternehmen durchaus der von Adorno und Horkheimer gegründeten Denkströmung zuzuordnen sei, da er vor allem eine Demokratietheorie mit kapitalismuskritischen Zügen konzipiert habe. Eine kritische Theorie, die sich mit der Analyse des neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit befasst, muss sich notwendigerweise mit der Entleerung der legitimierenden Kraft der Öffentlichkeit durch ihre Plattformisierung auseinandersetzen. In Habermas‘ Beiträgen findet die Verflechtung von Demokratietheorie und Kapitalismuskritik ihren Ausdruck vor allem in der Kritik am privaten Charakter der Plattformen und der künstlichen, durch Algorithmen betriebenen Aggregation der Themen, die die Netzkonsument:innen mobilisieren. Habermas‘ neue kritische Diagnose verkündet nicht das Scheitern der Demokratie in digitalen Gesellschaften. Vor allem im letzten Text wird die Möglichkeit angedeutet, eine digitale Infrastruktur als Mittel zur Förderung der Integration in postsäkularen Gesellschaften einzusetzen. Dies hängt von der Etablierung neuer Formen der Regulierung der Plattformen ab: Sie können sich nicht trotz der kommodifizierten Form der Berichterstattung in sozialen Medien jeder publizistischen Sorgfaltspflicht entziehen

Das Buch beinhaltet die Grundzüge einer Zeitdiagnose, die die deliberative Politik trotz aller Schwierigkeiten als zukunftsfähig postuliert. Habermas geht jedoch auf einige wichtige Fragen nicht ein. Ein Beispiel wäre der Strukturwandel der Rechtsform, die durch die Etablierung der digitalen Gesellschaft vorangetrieben wurde. Mit einem integrativen Werden von Verfassung und Technologie, wie die rechtswissenschaftliche Fachliteratur betont, ist eine Aktualisierung bzw. eine Kritik der theoretischen Rekonstruktion des modernen Rechts notwendig. Auf diesem rekonstruktivem Unternehmen beruht ein großer Teil von Habermas‘ Argumentation aus dem Jahre 1992 über die legitimierende Kraft der Öffentlichkeit. Eine Reflexion über die Einflüsse der Plattformisierung auf die Rechtsform fehlt aber in Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Mit diesem strukturellen Wandel der Rechtsform soll(en) sich die künftige(n) kritische(n) Theorie(n) auseinandersetzen. Dies setzt wiederum ein rekonstruktives Unternehmen voraus, das nicht nur die traditionellen rechtswissenschaftlichen Fächer, sondern auch die Innovationssoziologie, die Science and Technology Studies und andere technikaffine Disziplinen berücksichtigt.